Do 17. Dezember 2020
Netze aus künstlichen Neuronen sind ein faszinierender Forschungsgegenstand. Dem Aufbau des biologischen Gehirns nachempfunden, stellen sie das Herzstück der Künstlichen Intelligenz dar. Das in der Ausstellung aufgebaute interaktive neuronale Netzwerk ist die aufwendigste und größte Installation der Schau. Von der ersten Skizze bis zum Aufbau im Technischen Museum Wien durchlief es etliche Etappen. Ein Blick hinter die Kulissen seiner einjährigen Entstehung.
16. Dezember 2019. Exakt ein Jahr vor Eröffnung der Ausstellung schaltet der Quantenphysiker Mario Krenn um neun Uhr morgens seine Webcam ein. Den Hintergrund der Übertragung bildet ein flächiges Whiteboard mit wilden Zeichnungen und durchgestrichenen Gleichungen. Eine Tasse Kaffee ist auch dabei. Soweit ähnelt sich jedes seiner Büros, sei es wie jetzt an der Universität Toronto, Kanada, oder am Institut für Quantenoptik und Quanteninformation (IQOQI) in Wien, wo er seit 2015 das Programm MELVIN entwickelt hat.

„MELVIN war ein Algorithmus, der neue Experimente vorschlägt“, erklärt er. Die Experimente wurden dann von den Forscher_innen um Anton Zeilinger im Labor aufgebaut und ihre Funktionstüchtigkeit bestätigt. Marios derzeitige Forschung ist noch ehrgeiziger: Mit SEMNET entwickelt er ein Computerprogramm, das die enorme Menge an Fachliteratur analysiert, mit der sich Wissenschaftler_innen täglich konfrontiert sehen. „SEMNET basiert auf Machine Learning und schlägt Begriffe vor, die neue Forschungsgebiete werden können. Forscher und Forscherinnen könnten sich damit inspirieren lassen und Zusammenhänge entdecken, an die sie vorher nicht gedacht hätten.“

Auf die Frage, wie man das neuronale Netzwerk hinter SEMNET sichtbar macht, antwortet Mario pfiffig: „Macht es greifbar. Baut es auf.“ In den verbleibenden 15 Minuten der Telekonferenz überschlagen sich die Ideen. Statt Quantenphysik soll es etwas Alltägliches wie Ziffern analysieren. Statt Formeln am Bildschirm sollen Lampen über die Lichtstärke anzeigen, wo die Information fließt. Um zehn Uhr ist die grobe Skizze fertig. Mario verabschiedet sich in den nächsten Termin. Der Entwurf wird für ein Jahr lang die Arbeit am interaktiven neuronalen Netzwerk leiten.
 
Der Raumdesigner verleiht dem neuronalen Netz seine Wirkung.: Der Raumdesigner verleiht dem neuronalen Netz seine Wirkung.
Der Raumdesigner verleiht dem neuronalen Netz seine Wirkung.
Entwurf eines interaktiven neuronalen Netzwerks, Dezember 2019.: Entwurf eines interaktiven neuronalen Netzwerks, Dezember 2019. (Skizze: Florian Schlederer)
Entwurf eines interaktiven neuronalen Netzwerks, Dezember 2019. (Skizze: Florian Schlederer)
29. Jänner 2020. Der Entwurf hat geleistet, was einige Erklärvideos nicht vermocht hatten. Das Team der Ausstellung hat dadurch eine umfassende Intuition entwickelt, wie neuronale Netzwerke funktionieren. Jetzt muss es dem fachkundigen Blick des wissenschaftlichen Beirats standhalten. Die Idee wird erklärt: Als Besucher_in schreiben Sie eine Ziffer und das Netzwerk versucht sie zu erkennen. Für die Eingabe stehen 20 Bildpunkte in Form von Kacheln zur Verfügung. Jedes dieser Pixel ist ein Leuchtpaneel, das sich auf Berührung ein- oder ausschaltet. Anhand der geringen Anzahl von nur 20 Paneelen lässt sich der Informationsfluss nachvollziehen, nämlich von jedem einzelnen Bildpunkt durch die Schichten des Netzwerks bis hin zur Auswertung.

18. Mai 2020. Die dunkle Holzverkleidung und der Kamin könnten es zu einem gemütlichen Wohnzimmer machen. Tatsächlich handelt es sich aber um ein Besprechungszimmer des niederländischen Designbüros Tinker Imagineers, das für die Ausstellung engagiert wurde. Gründer Stan Boshouwers und sein Team eröffnen den Workshop. Drei Tage lang werden Stile, Ideen und die Erzählung der Ausstellung diskutiert. Dabei kristallisiert sich das interaktive neuronale Netz als ikonische Station heraus. Neuronale Netze und neuronales Lernen sind wesentlich für die moderne KI. Vor 30 Jahren war das nicht so. Im Vergleich zur klassischen KI damals, die regelbasiert war, arbeiten die heutigen Programme mit Wahrscheinlichkeiten. Das kann schnell kompliziert werden.

„Was mir besonders an dem Exponat gefällt, ist seine Einfachheit“, teilt Stan seine Euphorie mit dem Team. „Einstein sagte, man muss die Dinge so einfach wie möglich machen. Aber nicht einfacher. Viele Museen vergessen das. Lasst es uns besser machen. Das Exponat kann neuronale Netze Schritt für Schritt verständlich machen, auch für jene ohne Vorkenntnisse in Programmierung oder Code.“ Damit begannen die Tinker Imagineers ihre Arbeit, dem Objekt räumliche Struktur und ein Aussehen zu verleihen. 

 
Das Design will Besucher_innen einen symbolischen Blick ins Innere eines Computers gewähren.: Das Design will Besucher_innen einen symbolischen Blick ins Innere eines Computers gewähren.
Das Design will Besucher_innen einen symbolischen Blick ins Innere eines Computers gewähren.
9. September 2020. Das Paket ist da. Sven Deinum reißt es sofort auf. Trotz Lieferschwierigkeiten wegen Corona, erreichten ihn die eigens entworfenen Leiterplatten rechtzeitig. Er ist Industrial Designer bei 100%FAT, dem technischen Partner der Tinker Imagineers beim Bau der Station. Er begutachtet jede der 45 Platinen wie ein kleines Kunstwerk, streicht sich nachdenklich durch den Bart. Behutsam legt er die Leiterplatten nebeneinander auf. „Ich bin gespannt, ob das, was ich am Papier geplant habe, jetzt wirklich funktioniert.“

Gemeinsam mit seinem Kollegen Niels Kalma, Elektrotechniker, werden die Platinen (bald Neuronen im Netzwerk) und die lichtleitenden Glasfaserkabel (bald Verbindungen zwischen den Neuronen) getestet. Niels ist es auch, der die Paneele entwickelt, große flache Knöpfe in Kachelform, mit denen die Besucher_innen die Eingabe tätigen. „Die Herausforderung bei diesem Projekt besteht darin, ein Gleichgewicht zwischen Ästhetik und Umsetzbarkeit zu schaffen – und das mit straffem Zeitplan und während Corona. Aber wir bekommen das hin!“
 
Leiterplatten, Schaltkreise und Glasfaserkabel wurden vom Industrial Designer und Elektrotechniker entworfen und funktionstüchtig gemacht.: Leiterplatten, Schaltkreise und Glasfaserkabel wurden vom Industrial Designer und Elektrotechniker entworfen und funktionstüchtig gemacht.
Leiterplatten, Schaltkreise und Glasfaserkabel wurden vom Industrial Designer und Elektrotechniker entworfen und funktionstüchtig gemacht.
Leiterplatten, Schaltkreise und Glasfaserkabel wurden vom Industrial Designer und Elektrotechniker entworfen und funktionstüchtig gemacht.: Leiterplatten, Schaltkreise und Glasfaserkabel wurden vom Industrial Designer und Elektrotechniker entworfen und funktionstüchtig gemacht.
Leiterplatten, Schaltkreise und Glasfaserkabel wurden vom Industrial Designer und Elektrotechniker entworfen und funktionstüchtig gemacht.
Leiterplatten, Schaltkreise und Glasfaserkabel wurden vom Industrial Designer und Elektrotechniker entworfen und funktionstüchtig gemacht.: Leiterplatten, Schaltkreise und Glasfaserkabel wurden vom Industrial Designer und Elektrotechniker entworfen und funktionstüchtig gemacht.
Leiterplatten, Schaltkreise und Glasfaserkabel wurden vom Industrial Designer und Elektrotechniker entworfen und funktionstüchtig gemacht.

25. September 2020. Die Computeranimation ist fertig. Der Software Developer Sjoerd de Jong dokumentiert den Erfolg per Video. Das neuronale Netz klassifiziert die Ziffern richtig. De Jong spielt mit dem Programm, prüft es auf alle möglichen Fehler, aber es scheint makellos zu laufen. „Die Begriffe ‚maschinelles Lernen’ und ‚künstliches neuronales Netzwerk’ klingen ziemlich beängstigend und kompliziert, aber die KI zu programmieren hat mich nur zwei Tage gekostet. Es war einfacher, als ich erwartet hatte.“ 
 
4. Dezember 2020. Der LKW erreicht nach tausend Kilometer Fahrt das Technische Museum Wien. Er bringt auch die vielen Einzelteile des neuronalen Netzes. Projektleiter Jürgen Öhlinger ist sichtlich erleichtert. „Ich bin unglaublich froh, dass trotz Corona alles rechtzeitig angekommen ist.“ Schicht um Schicht wird die Station im zweiten Stock der Ausstellung „Künstliche Intelligenz?“ aufgebaut. Nach erfolgreicher Testung schickt Jürgen ein Foto an Mario in Toronto: „Es ist fertig und bereit, von neugierigen Besucher_innen verstanden zu werden!“

Das fertig aufgebaute neuronale Netz in der Ausstellung.: Das fertig aufgebaute neuronale Netz in der Ausstellung.
Das fertig aufgebaute neuronale Netz in der Ausstellung.
Florian Schlederer (Technisches Museum Wien): Studium der Physik und Philosophie, Co-Kurator der Ausstellung „Künstliche Intelligenz?“.