Di 25. Mai 2021
Manche Tierarten machen es instinktiv: Sie bilden Schwärme. Heringe im Wasser, Stare in der Luft und Ameisen am Boden. Ihr kollektives Auftreten lohnt sich, genauer zu untersuchen. Und das tun nicht nur Menschen mit einem Hang zur Biologie, sondern auch solche, die sich mit Künstlicher Intelligenz befassen. 
Viele Individuen sind manchmal eine Qual. Welches Gnu soll der Löwe nun reißen, wenn alle zusammenstehen? Genauso geht es dem Bussard, der an der dichten Wolke von Staren scheitert, die ihm „die Mauer machen“. In der Natur schützt die Masse den Einzelnen. Auch im Wasser. Je näher der Räuber, umso enger schwimmen die Sardinen zusammen. Richtungswechsel? In Sekundenschnelle. Faszinierend dabei: Soziale Informationen wirken sich sofort auf das Verhalten der gesamten Gruppe aus. Damit muss nicht der Einzelne ständig aufpassen, sondern die Reaktion erfolgt kollektiv. Eine praktische Angelegenheit, die helfen könnte, die Schwarm-Intelligenz auch für technische Entwicklungen zu nützen. So geschehen am Institut für Biologie und dem Labor für Künstliche Intelligenz (KI) an der Karl Franzens Universität in Graz. 
 
Weder Dirigent noch Anführer

Dort arbeiten Bienenforscher_innen und Techniker_innen eng zusammen, was das Verhalten sozialer Insekten betrifft. Thomas Schmickl lehrt „Zoologie und bioinspirierte Systeme“ und beschäftigt sich intensiv mit dem „Beeclust“- Algorithmus, der den Honigbienen abgeschaut und in Roboterschwärme eingesetzt worden ist. Es geht um die Entscheidungsfindung. Wohin wandert der Schwarm? Wer bestimmt? „Sicher kein Einzelner“, so der Forscher Thomas Schmickl, „denn es geht ja nicht um ein schön choreographiertes Ballett von Akteuren!“ Vielmehr hat schon Mark Millonas einige Prinzipien definiert, verweist Thomas Schmickl auf die Erkenntnisse des amerikanischen Physikers, die den Schwarm charakterisieren:
  • Die Einfachheit – viele einfache Akteure machen gemeinsam etwas Komplexes.
  • Die Robustheit – selbst, wenn Viele versagen, bleiben genügend übrig, um die Aufgabe zu erledigen.
  • Die Flexibilität – der Schwarm sammelt viele Inputs gleichzeitig und „verrechnet“ sie intern durch sein Verhalten. Dadurch kann der Schwarm auf viele Dinge parallel reagieren. 
Doch ab wann spricht man überhaupt von Schwarm? „Dafür gibt es keine klare Grenze“, antwortet Thomas Schmickl, „aber für schwarmintelligentes Verhalten gibt es immer eine unscharfe untere Grenze.“ In so einem Fall findet zu wenig Austausch statt und folglich herrscht zu wenig Informations-Diversität. Alois Ferscha, Leiter des Instituts für Pervasive Computing an der Johannes Kepler Universität in Linz, stimmt dieser Einschätzung zu. Er spricht aber, wie alle Fachleute, lieber von der Skalierbarkeit, also der Maßstäblichkeit, als von der Größe. Und die reicht von Einheiten über 250 Zentimeter bis zu Einheiten unter einem Millionstel Zentimeter. Und da ergeben sich weitreichende Einsatzmöglichkeiten von Ensembles. (Der Informatiker überlässt den Ausdruck „Schwarm“ lieber den Biologen.) Wie auch immer, diese Gruppen können Enormes leisten. Denn das Verhalten des Einzelnen „geht nicht von einer egoistischen, sondern von einer kollektiven Ratio aus“, so der Forscher.

Alois Ferscha: Alois Ferscha
Alois Ferscha
Thomas Schmickl:  Thomas Schmickl
Thomas Schmickl
Mehr Sicherheit, weniger Umwege

Wichtig ist das Ziel, eine gemeinsame Strategie. Bei den Tieren heißt sie Überleben, in der Technik Sicherheit. Wenn es darum geht, Reparaturen in gefährlicher Umgebung vorzunehmen. Oder, wenn in einem Tunnel, der womöglich unter Wasser steht, Sicherungsmaßnahmen zu setzen sind. Dann können mehrere autonome und selbstlernende Roboter Informationen einsammeln und handeln. 
Selbst wenn der Untersuchungsraum klar definiert ist, wie beispielsweise bei einer Lagerhalle, funktionieren mehrere Einheiten miteinander. Die Roboter stimmen sich gemeinsam ab. Sie holen, stapeln und bringen Waren von einem Ort zum anderen, ohne zusammenzustoßen oder sich gegenseitig zu behindern. Dort kommt der Ameisen-Logarithmus zum Einsatz. Wie bei einer Ameisenstraße weichen manche Einheiten aus, andere suchen bessere Übergänge, die dritten leiten den Konvoi um. So geschieht das auch in der Lagerhalle. Über das Internet oder über Bluetooth-Schnittstellen tauschen sich die mobilen Roboter miteinander aus, entscheiden, was zuerst erledigt wird und welche Transport-Einheit dafür die effektivste ist. Nach dem Prinzip: kurze Wege, freie Plätze. 
 
In der Luft und im Wasser

Thomas Schmickl arbeitet in dem KI-Lab in Graz an dem Projekt „Hiveopolis“. Nicht Ameisenstraßen, sondern Bienenstöcke sind hier das Modell. Der gesamte Lebensraum (Polis) und nicht nur der Organismus allein, wird in Betracht gezogen. Bei Umweltveränderungen kann der Bienenstock dank Technologie rechtzeitig reagieren. Das Besondere dabei ist, dass Bienen und Roboter gemeinsame Sache machen. Kleine Minidrohnen imitieren den Bienentanz und vermitteln den Tieren Informationen. Gleichzeitig können Sensoren etwa die Temperatur in der Wabe regulieren und die Brut schützen.

 
Fällt ein Kälteeinbruch herein, sammeln sich die Bienen um die warme „künstliche“ Wärmequelle.: Fällt ein Kälteeinbruch herein, sammeln sich die Bienen um die warme „künstliche“ Wärmequelle
Fällt ein Kälteeinbruch herein, sammeln sich die Bienen um die warme „künstliche“ Wärmequelle
Fliegende robotische Objekte interessieren viele Branchen. Sei es im Sanitätsdienst, wo im Krisenfall Blutspenden oder Medikamente durch intelligente Drohnen zu den Patient_innen gelangen. Weiters liebäugeln Postzusteller_innen, Filmemacher_innen und auch das Militär mit diesen autonomen Flugeinheiten. So will das österreichische Bundesheer bis zum Jahr 2023 auf 90 Drohnen aufstocken. Ihr Einsatz reicht von der Grenzsicherung bis zum Katastrophenschutz, für Aufnahmen nach Unfällen beispielsweise. Sie sind mit Wärmebildkameras, Scheinwerfern und Entfernungsmessern ausgestattet. Und das ist nur ein kleines Spektrum der Möglichkeiten.

Im Projekt „Robocoenosis“ der Grazer Forscher_innen werden Umweltdaten mittels Roboter für ein Langzeit-Monitoring in heimischen Gewässern gesammelt. Dabei beobachten die Roboter Algen, Muscheln und Mikroorganismen. Sie erkennen, welche Lebewesen im Gewässer vorkommen. Das Besondere an diesen Kollektiven ist, dass etwa Sensoren kompostierbar sind. Es handelt sich um sogenannte biohybride Roboter, die die Lebensgemeinschaft, die Zönose, untersuchen. „So wird ein Teil der Roboter durch organische Komponenten ersetzt, ein erster Schritt für den Einsatz in freier Natur“, so Thomas Schmickl.

 
Robocoenosis, das Projekt der Universität Graz - Roboter sammeln Daten in heimischen Gewässern: Robocoenosis, das Projekt der Universität Graz - Roboter sammeln Daten in heimischen Gewässern
Robocoenosis, das Projekt der Universität Graz - Roboter sammeln Daten in heimischen Gewässern
Benimm-Regeln

Neben den grundlegenden Anforderungen an Schwärme wie Einfachheit und Robustheit beeinflusst das Verhalten aller Beteiligten wesentlich den Erfolg. Alois Ferscha spricht von drei Regeln bei nahezu identischen Individuen. Erstens: Abstandhalten, zweitens: Richtung beibehalten und drittens: Zusammenbleiben. Und das will gelernt sein. Und wie im echten, sprich analogen Leben auch, wächst der Algorithmus durch Belohnung und Bestrafung. Aber was sollen Drohnen und andere autonome mobile Geräte überhaupt lernen und was nicht? Alois Ferscha: „Sie sollen alles lernen, sie dürfen keinesfalls nichts lernen“. Die Grenze darüber ist fragil, die Frage mündet in eine ethische Diskussion. Wie weit sollen also KI-Roboter gehen – bis zum Tod? Alois Ferscha nähert sich dem Thema durch die Thesis einer seiner aktuellen Forschungsprojekte: „Wir brauchen keine künstliche Intelligenz, die menschliche Intelligenz digital nachbaut. Wir brauchen eine Künstliche Intelligenz, die menschliche Intelligenz fordert und weiterentwickelt.“

Ilse Huber (Ö1) macht Natur und Wissenschaft multimedial zum Thema.