Mo 28. März 2022
„Man muß nicht in der Bratpfanne gelegen haben, um über ein Schnitzel zu schreiben.“ (Maxim Gorki)
Die Marotte, Speisen ineinander zu verpacken, sie mit anderen zu umhüllen oder zu füllen, stammt angeblich schon von den Byzantinern. Köchinnen und Köche mussten eben nie der altbekannten Vorschrift folgen, mit dem Essen nicht zu spielen. Im Gegenteil: Gerade weil die Kunst der kulinarischen Vermummung eine Spielerei ist, macht sie klar, dass es dem Leben neben Macht und Reichtum auch noch etwas anderes abzutrotzen gilt, nämlich Genuss. Einen Genuss, nicht unähnlich der Vorfreude auf ein Geschenk, das es erst auszupacken gilt. Man kann sich ja auch über ein Paar liebevoll verpackter alter Socken freuen, weil die Verpackung eine Anregung für unsere Phantasie ist. In Geschenkpapier gewickelt, könnten sie sich schließlich immer noch als Seidenschal entpuppen. Und um wie viel größer ist die Freude, wenn dann tatsächlich ein Seidenschal zum Vorschein kommt!

Das eindrucksvollste Beispiel der Verschachtelung diverser Viktualien stammt wohl von T.C. Boyle. In seinem kraftvollen Roman „Wassermusik“ beschreibt er das Rezept eines gebackenen Kamels, das den vierhundert Gästen einer Beduinenhochzeit vorgesetzt wird. Das zwei Tage lang in einem Feuerloch zu backende Kamel muss selbstverständlich vor dem Garen gefüllt werden, wobei die Füllung wieder mit gefüllten Füllungen gefüllt ist: das Kamel mit Schafen, die Schafe mit Trappen, die Trappen mit Karpfen und die Karpfen mit exakt fünfhundert Datteln und zweihundert hart gekochten Regenpfeifereiern. Boyles Rezept endet mit der lakonisch vorgebrachten, einen köstlichen Kontrast zur Opulenz des Hauptgerichts bildenden Weisung: „Als Beilage Reis servieren.“
Die Schattenseite des Genusses ist, dass man sich allzu leicht an ihn gewöhnt. Dass man ihn jeden Tag erleben möchte. Das Talent der Selbstbescheidung ist nun einmal bei den meisten Menschen nicht gerade ausgeprägt. Am besten jeden Tag ein Seidenschal! Und jeden Tag gebackenes Kamel! Warum nicht gleich vergoldetes Kamel?

Im Norditalien des 15. Jahrhunderts war es bei den Wohlhabenden üblich, sich mit Blattgold überzogene Mahlzeiten servieren zu lassen. Eine fragwürdige Sitte, die dem finanziell pragmatischen venezianischen Patriziat ein Dorn im Auge war. Mit Gold konnte man schließlich Besseres anstellen als es zu verzehren und anderntags in den Kanal zu kacken – noch mehr Gold verdienen beispielsweise. Also untersagte der Rat von Venedig 1514 das Vergolden aller Speisen.
Dass sich in der besseren Gesellschaft Unmut über diesen Ratschluss breitmachte, liegt auf der Hand. Es ist ja auch empörend, wenn man seinen eigenen Besitz nicht mehr verspachteln darf. Aber die Reaktion der Reichen war vergleichsweise dezent. Nachdem sie schon so lange ihren Wohlstand demonstriert hatten, nahmen sie nun von lautstarken Demonstrationen Abstand. Vielleicht waren sie insgeheim ganz froh darüber, ihren Freunden nicht mehr mit vergoldeten Kapaunen imponieren zu müssen.
Trotzdem konnten sie den rötlich-goldenen Schimmer nicht so rasch vergessen, und so trat nun an die Stelle des Vergoldens eine billigere und zugleich schmackhaftere Methode, um ein für das Auge doch zumindest ähnliches Ergebnis zu erzielen: das Panieren. Ein im wahrsten Sinn des Wortes vielschichtiger Vorgang, der ein hohes Maß an gastronomischem Geschick erfordert – und ein Riesenschritt in Richtung Wiener Schnitzel!
Rund zweihundert Jahre sollte es noch dauern, bis die Köchinnen und Köche die Panier entwickelten, wie wir sie heute kennen (vor dem 18. Jahrhundert wurde auf das Mehl verzichtet), und zweihundert weitere, bis sich der Name „Wiener Schnitzel“ als die gängige Bezeichnung für ein mit Mehl, verquirltem Ei und Semmelbröseln überzogenes, in Butterschmalz herausgebackenes Kalbschnitzel endgültig etablierte. Eine lange, von Erfindungsreichtum, Zufällen und politischen Entscheidungen beeinflusste Erfolgsgeschichte, deren Hauptakteure vorwiegend ein Ziel verfolgten: die Veredelung des Fleisches. Und was sind wir doch für Fleischtiger!

Unsere Urgroßeltern waren in dieser Hinsicht noch bescheidener, lag doch der Fleischkonsum im ausgehenden 19. Jahrhundert bei nicht einmal einem Drittel unseres heutigen Verbrauchs. Und das auch nur im wohlhabenden Wiener Raum. Die Landbevölkerung bekam nicht einmal dieses Drittel auf den Teller, einmal ganz zu schweigen vom entsagungsreichen Rest der Welt. Während wir heute durchschnittlich fast hundert Kilo Fleisch pro Kopf und Jahr konsumieren, war der Genuss von Schnitzel, Schweinsbraten und Backhendln bei unseren Ahnen eine Ausnahme, ein seltener Brauch, der nur an Festtagen, also zu Weihnachten, Neujahr oder bei Hochzeiten gepflogen wurde. Ein Genuss also, der nicht alltäglich, sondern selten und mit wochenlanger Vorfreude verbunden war.
Selbst später, als das Wiener Schnitzel sich zur „Sonntagsspeise“ mauserte, konnte man sich noch darauf freuen. Einmal pro Woche ein Geschenk auspacken, ist zwar keine Sensation mehr, aber doch ein hübscher Lichtblick, eine Abwechslung im Alltagstrott. Und damit eine Würdigung der Gabe, die es auszupacken gilt. Das Wiener Schnitzel hat sich diese Würdigung verdient, es will geehrt sein, ob es nun das obligate Kalbfleisch oder eine andere Fleischsorte enthält. Denn es ist eine Symphonie, die nicht allein den Gaumen, sondern auch die Augen und die Ohren erfreut.

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Man stelle sich ein Gasthaus in der Wiener Vorstadt vor. Es ist ein Sonntagmittag in den frühen Siebzigerjahren und das Land befindet sich in einer wirtschaftlichen und sozialen Blütezeit, wie sie die Eltern nie zuvor erlebt haben. Man selbst natürlich auch nicht, man ist ja hineingeboren in diese Blütezeit und wird sie erst in zehn bis fünfzehn Jahren, also rückblickend zu schätzen wissen, wenn die Welt wieder von finanziellen Glücksrittern regiert wird. Für den jungen, eingeborenen Engel ist das Paradies noch eine Selbstverständlichkeit. Die Symphonie beginnt mit dem Bestellen. Natürlich muss es Schnitzel – oder etwas Artverwandtes – sein. Man selbst tendiert zum Cordon bleu, weil es gewissermaßen eine Schnitzelmatrjoschka ist. Der Toast Hawaii, den sich die ältere Schwester wünscht (sie darf schon in die Disco), wird beim Sonntagsessen von den Eltern abgelehnt. Als Trostpflaster wird ihr ein Afri-Cola zugestanden. Die Erwachsenen trinken das schnitzeltechnisch zwingend vorgeschriebene Bier, man selbst bekommt ein Packerl Sunkist vorgesetzt.
Die schwierigste Entscheidung ist die Wahl der Beilage. Ganz abgesehen vom Ketchup und den Preiselbeeren, die ohnehin als Beilagen der Beilagen mit auf den Resopaltisch kommen. Ausgeschlossen werden Reis (der ist für Magenkranke) und Gurkensalat (den essen nur die Rohköstler), gerade noch geduldet werden Petersilienerdäpfeln (trotz der grünen Einsprengsel). Der Vater ordert Braterdäpfeln und die Mutter Erdäpfelsalat, die Schwester nimmt Pommes frites (wegen des internationalen Flairs). Man selbst geht in die Vollen: Mayonnaisesalat.
Womit der erste Satz der Symphonie beendet ist. Der zweite spielt sich in der Küche ab, und trotzdem ist er im gesamten Wirtshaus zu vernehmen. Gibt es ein markanteres, für eine ganz bestimmte Speise wesenhafteres Geräusch als das des Schnitzelklopfens? Dieses dumpfe monotone Hämmern, das über den Umweg des Gehörs, also in gleichsam pawlowscher Manier den Speichelfluss der Zuhörenden zu einer wahren Sturzflut anschwellen lässt? Die folgende gespannte Stille, dem geräuschlosen Panieren geschuldet, ist ein dramaturgisch wohlgesetzter Übergang zum Höhepunkt des zweiten Satzes: dem abrupten scharfen Zischen, wenn die Schnitzel in das heiße Fett getaucht werden.
Den dritten Satz muss man erlebt haben. Mit allen Sinnen. Die zwar raue, aber samtig glitzernde goldgelbe Oberfläche, der verführerische Duft des aufsteigenden Dampfes und das leise Knistern der Panier unter dem Messer. Dann der erste Bissen …
Unbeschreiblich.
Und der vierte Satz? Vor fünfzig Jahren gab es ihn tatsächlich noch: die Freude auf den nächsten Sonntag.

Stefan Slupetzky ist Schriftsteller, Illustrator und Musiker.