Mo 22. März 2021
Das zehnfach vergrößerte Modell eines menschlichen Gehirns wurde im Februar 1953 erstmals der Öffentlichkeit präsentiert. Es bestand aus Plexiglas und wies rund 600 Glühlämpchen, verbunden mit 2.000 Meter Leitungsdraht, auf – und war sogleich eine internationale Sensation. Konstruiert im Technischen Museum Wien, war es zuletzt im Naturhistorischen Museum beheimatet. Nun ist es wieder im TMW zurück, als Prunkstück der Ausstellung „Künstliche Intelligenz?“.
Erdacht und erschaffen hat es der promovierte Physiker Josef Nagler, seit Anfang der 1930er-Jahre Kustos und ab 1949 Direktor des Technischen Museums Wien. Bereits am Beginn seiner Karriere hatte er sich intensiv mit der Funktion des menschlichen Gehirns beschäftigt und war mitbeteiligt am Bau eines ersten überdimensionalen Modells.

Vom „leuchtenden Gehirn“ …...

Die Hirnforschung erlebte nach dem Ersten Weltkrieg einen großen Aufschwung. Abertausende Soldaten erlitten an der Front Verletzungen des Gehirns mit unterschiedlichen Auswirkungen auf ihren Gesundheitszustand. Erstmals konnte die Forschung aber so definieren, welche Hirnareale welche Funktion erfüllten und wie sie untereinander verbunden waren.
Drei Personen bestimmten in der Folge die Entwicklung:

Der Wiener Arzt Robert Exner. Er untersuchte in russischer Gefangenschaft verwundete Mithäftlinge und avancierte so zum Pionier der Hirnforschung.
Edith Klemperer, promoviert 1924, Assistentin Otto Poetzels, einem bedeutenden Vertreter der „Zweiten Wiener Medizinischen Schule“. Sie initiierte auf eigene Kosten den Bau eines leuchtenden, eineinhalb mal zwei Meter großen Hirnmodells. Dieses „leuchtende Gehirn“ sollte zentraler Bestandteil eines neuen Hirnmuseums an der medizinischen Fakultät der Universität Wien werden.
Und der junge Physiker Josef Nagler, der die technische Umsetzung des Modells übernahm.

200 Neonröhren, von Glasbläsern individuell angefertigt, stellten die Nervenbahnen des Gehirns dar, die einzeln oder in Gruppen zum Leuchten gebracht werden konnten.
1931 war das Hirnmodell fertig. Edith Klemperer konnte es in Bern, beim Ersten internationalen Neurologenkongress, der Fachwelt präsentieren. Die Vorführung geriet zur Sensation. In den folgenden Jahren hielt sie Dutzende Vorträge an Universitäten, Volkshochschulen sowie im Technischen Museum Wien, das Heimstätte des Modells wurde. Jahre bevor das Hygienemuseum Dresden mit dem „Gläsernen Menschen“ an die Öffentlichkeit trat, hatten Klemperer, Exner und Nagler eine Pionierarbeit vollbracht.

Edith Klemperer mit dem Gehirnmodell 1: Edith Klemperer mit dem Gehirnmodell 1
Edith Klemperer mit dem Gehirnmodell 1
Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme im März 1938 wurde Edith Klemperer als Jüdin verfolgt. Sie musste ihre Heimat verlassen und mit ihrem greisen Vater nach New York emigrieren. Überraschenderweise erlaubten es ihr die Nazis, das „leuchtende Hirnmodell“ mitzunehmen, sodass sie damit in den USA ihre Vortragstätigkeit fortsetzen konnte. Klemperer starb 1987 in New York. Ihr Hirnmodell ist bis heute verschollen.

… ... zum „elektrischen Gehirn“

Ende der 1940er-Jahre erinnerte man sich in Wien an die Leistungen von damals. Das einstige Kernteam um Nagler und Exner, erweitert um den Kustos des Naturhistorischen Museums Dr. Alois Zlabinger, ging daran, für die Schausammlung des Museums ein „dynamisch leuchtendes Hirnmodell“ herzustellen. Wieder hatte ein Weltkrieg mit seinen Millionen Verletzten und Invaliden der Hirnforschung neue Erkenntnisse gebracht. Das Modell sollte noch größer und noch spektakulärer sein. Diesmal sollten nicht Neonröhren, sondern kleine Glühlämpchen die Funktion der Nervenzentren und Nervenbahnen veranschaulichen.
Im Mai 1951 bekamen Nagler und Exner den Auftrag zur „Neukonstruktion eines Gehirnmodells für die anthropologische Dauerausstellung“ des Naturhistorischen Museums. Geplant und zusammengebaut wurde das Modell am Dachboden des Technischen Museums Wien. Die Medien beobachteten den Baufortschritt und kündigten begeistert ein „Riesengehirn aus Plexiglas“ an. Im Mai 1955 war es fertig gestellt – funktionsfähig war es aber noch lange nicht: Ging eine der Hunderten Lötstellen des fragilen Modells auf, blieb es dunkel. Es schien fast so, als ob das Modell ein Eigenleben entwickelte: Manchmal funktionierte eine der vielen Schaltungen aus unerklärlichen Gründen nicht, dann wieder schon. Über Jahre werkten Nagler und sein Team am immer komplexer werdenden Hirnmodell. 1957 schließlich drohte das ganze Unterfangen zu scheitern. Trotz immer neuer Ideen und Funktionen wuchs den Meistern ihre Erfindung „über ihren Kopf hinaus“, wie die Presse süffisant anmerkte. Schließlich musste eine Elektrofirma die Verkabelungen und Schaltkreise komplett neu aufsetzen. Nach weiteren zwei Jahren Arbeit konnte das Hirnmodell 1959 – nach fast acht Jahren Bau – der Öffentlichkeit präsentiert werden. Mehr als dreißig Jahre blieb es sodann fixer Bestandteil der Schausammlung des Naturhistorischen Museums.

Die vielfältigen Möglichkeiten des Modells, Vorgänge im menschlichen Gehirn auch für Laien verständlich zu machen, müssen für die damaligen Museumsbesucher_innen ein besonderes Erlebnis gewesen sein. Nicht nur die räumliche Anordnung der Nervenbahnen, auch Vorgänge im Gehirn selbst konnten mit den 600 bunten Glühlämpchen dynamisch dargestellt werden. Farbige Kunststoffröhren aus Plexiglas und Kabel, die der Farbgebung anatomischer Lehrbücher entsprachen, zeigten die Nervenbahnen. Nervenimpulse konnten mithilfe des Schaltpultes einzeln oder in Gruppen aktiviert werden und somit auch die Funktionen der linken und rechten Hirnhälfte und das Zusammenspiel von Mittel-, Rauten- und Nachhirn, von Stamm- und Kleinhirn und der aus Maschendraht geformten Großhirnrinde demonstriert werden.

Erst Anfang der 1990er-Jahre verlor das Modell wegen neuerer Erkenntnisse in der Gehirnforschung seine Gültigkeit. Es wurde selbst zu einem historischen Objekt der Wissenschaftsgeschichte und kam ins Depot. 1998 erinnerten sich Ausstellungsmacher_innen des Landesmuseums für Technik und Arbeit in Mannheim an das Wiener Ausstellungsstück. Es sollte zur Hauptattraktion einer Sonderausstellung werden. Doch als man das gute Stück auspackte, funktionierten die elektrischen Schalttafeln nicht mehr. In der Not montierte man über dem Drahtgeflecht der Großhirnrinde ein Netz mit Leuchtdioden, um damit die Auswirkungen der Alzheimerkrankheit auf das Gehirn darstellen zu können. Nach dieser Ausstellung verschwand das Modell wieder im Depot – bis 2019 die Idee geboren wurde, es wieder dorthin zu bringen, wo es vor fast 70 Jahren entstanden war: ins Technische Museum Wien.

Restaurierung des Modells, 2020: Restaurierung des Modells, 2020
Restaurierung des Modells, 2020
Technikmetaphern gestern und heute

Als historisches Ausstellungsobjekt ist es nun erstmals wieder – nach sorgfältiger Restaurierung – in Österreich zu sehen. Und demonstriert dabei anschaulich die Zeitgebundenheit der Forschung. Technikmetaphern prägten immer schon die Vorstellung über das menschliche Gehirn. So dominierte im 19. Jahrhundert das Bild vom Gehirn als „verwunschener Webstuhl“: Gedanken und Gefühle würden durch diese Wundermaschine in funkelnde Tapisserien verwebt, die damit unser Bewusstsein widerspiegeln. Nach dem Ersten Weltkrieg veränderte sich das Bild. Der Körper des Menschen wurde zum „Industriepalast“, das Hirn zum Sinnbild der modernen, mit Neonlicht durchfluteten Stadt mit ihren Verkehrs-, Ver- und Entsorgungswegen, die niemals ruhen. Nach 1945 schließlich stand der Computer, das „Elektronengehirn“, Pate für das Bild unseres Gehirns, das zum Information verarbeitenden neuronalen Netzwerk mutierte.
Das Gehirnmodell in der Ausstellung, Gesamtansicht, 2020: Das Gehirnmodell in der Ausstellung, Gesamtansicht, 2020
Das Gehirnmodell in der Ausstellung, Gesamtansicht, 2020
Das Gehirnmodell in der Ausstellung, Detailansicht, 2020: Das Gehirnmodell in der Ausstellung, Detailansicht, 2020
Das Gehirnmodell in der Ausstellung, Detailansicht, 2020
Das im Technischen Museum Wien ausgestellte Modell des elektrischen Gehirns entstand genau an der Schwelle zu diesem letzten großen Paradigmenwechsel, den die Hirnforschung vollzog. Nun steht der nächste Paradigmenwechsel an. Welche Technikmetapher wird unsere Vorstellung des Gehirns im 21. Jahrhundert prägen?

Literaturhinweis:
Flora C. Lysen: Brainmedia. One hundred Years of Performing Live Brains, 1920–2020. Amsterdam 2020.

Christian Klösch (TMW) ist Zeithistoriker und Provenienzforscher.