Mi 11. Januar 2023
Wie können Pflanzen in den trockensten Gebieten der Erde überleben? Und wie können wir diese Strategien (aus)nutzen? Um Antworten zu finden, begeben wir uns in Wüstenregionen, in denen das Leben von Nebeltröpfchen und mikrostrukturierten Oberflächen abhängt.
Über dem Pazifik bäumen sich allmählich dicke Nebelwolken auf. Sie kriechen langsam über die trockenen Küstenhänge und hüllen jedes Hindernis mit winzigen Wassertröpfchen ein. Die kühlen Nebelmassen verweilen mehrere Stunden an den Küstenhängen der Atacama-Wüste, bevor sie zögernd wieder abziehen. Im Verborgenen haben sich währenddessen Wassertropfen an verschiedensten Oberflächen gesammelt. Dieses regelmäßige Ereignis ist unscheinbar und dennoch von unermesslichem Wert für das Leben in der trockensten Wüste der Erde. Die geringe Größe der Nebeltröpfchen sorgt dafür, dass sie in der Schwebe bleiben und nicht in Form von Regen zu Boden fallen. Warten auf Regen ist daher vergebens. Lediglich der nächtliche Tau stellt noch eine weitere Wasserquelle dar; insbesondere in den Sommermonaten, wenn der Nebel ausbleibt. Viele Pflanzen haben sich im Laufe der Evolution an das regelmäßige Auftreten von Nebel und Tau angepasst und können nur deshalb überleben, weil sie über spezielle Oberflächen das Wasser aus der Umgebungsluft absorbieren und einlagern. Wie dies im Detail funktioniert, hängt von der jeweiligen Pflanzenart und deren Oberflächeneigenschaften ab.

Nebelformation an den Hängen der Atacama-Wüste in Chile mit typischem Kakteenbewuchs: Nebelformation an den Hängen der Atacama-Wüste in Chile mit typischem Kakteenbewuchs
Nebelformation an den Hängen der Atacama-Wüste in Chile mit typischem Kakteenbewuchs
Für die Wissenschaft und Technik sind biologische Oberflächen spätestens seit dem Boom des Lotus-Effekts, der in den 1970er-Jahren vom deutschen Botaniker Wilhelm Barthlott beschrieben wurde, besonders interessant geworden. Seitdem wurden immer mehr biologische Oberflächen untersucht und technisch imitiert: Es ist eine Welt, die uns oft erst bei 100–1.000-facher Vergrößerung zugänglich wird und eine beeindruckende Vielfalt an Strukturen und Funktionen bietet – von farbgebend, antimikrobiell bis hin zu wasserabweisend lässt sich alles finden.

Mikrostrukturierte Oberfläche eines Kaktusstachels unter dem Elektronenmikroskop.: Mikrostrukturierte Oberfläche eines Kaktusstachels unter dem Elektronenmikroskop
Mikrostrukturierte Oberfläche eines Kaktusstachels unter dem Elektronenmikroskop
In vielen ariden Gebieten verstärkt nicht nur der Klimawandel die Wasserknappheit, sondern auch Veränderungen in der Landnutzung sowie der eingeschränkte Zugang zu Trinkwasser durch Privatisierung der Wasserrechte. Da die Menschheit auch in Zukunft viele trockene Gebiete als Lebensraum beanspruchen wird, soll hier die Natur eine möglichst effiziente und nachhaltige technische Lösung zur Wassergewinnung anbieten. Eine kostengünstige Möglichkeit zur Nutzbarmachung von Nebel stellen derzeit große Netze aus Polyolefinen dar. Diese wurden bereits in einigen Küstenregionen in Südamerika und Südafrika sowie auf den Kanarischen Inseln aufgestellt und liefern dort in kleinem Maßstab Nutzwasser für die Land- und Forstwirtschaft. Die Funktionsweise der Netze basiert auf der Kondensation von Nebeltröpfchen auf einer wasserabweisenden Oberfläche in Kombination mit einer Ablaufrinne, die das gesammelte Wasser in einen Speicherkörper führt.

Video: Harvesting fresh water from fog, MIT Mechanical Engineering
© MIT Mechanical Engineering

 
Im Pflanzenreich existiert dieses Funktionsprinzip ebenfalls, allerdings unter Verwendung natürlicher Materialien und in den unterschiedlichsten Ausprägungen. Große, exponierte Oberflächen werden hier von langen, dünnen Blättern oder Stacheln gebildet, die sich in ihrer Oberflächenbeschaffenheit unterscheiden. Um sich vor Austrocknung zu schützen, bilden die meisten Wüstenpflanzen eine wasserabweisende Wachsschicht auf der Oberfläche aus. Wenn dann Nebel und Tau auftreten, wird das Wasser gezielt zu spezialisierten Speichergeweben hin kanalisiert. Der Transport findet entweder über das Abperlen an der Oberfläche oder über die direkte Aufnahme durch Spezialstrukturen statt. Der Abperlmechanismus wurde im Wüstengras (Stipagrostis sabulicola) der Namib-Wüste, die ebenfalls regelmäßig Nebelbildung aufweist, untersucht und wird durch parallel verlaufende Rillen in der Größenordnung von einigen Mikrometern an der Blattaußenseite verstärkt. Auf diese Weise beregnet sich die Pflanze bei Nebel und Tau selbst. Im Gegensatz dazu wurde die direkte Aufnahme von Wasser vor allem an Tillandsien (Tillandsia landbeckii) untersucht: Zur Wasseraufnahme dienen besondere Saugschuppen an der Blattoberfläche, die für Wasser hauptsächlich in eine Richtung durchlässig sind. Durch diesen Mechanismus können die Pflanzen den regelmäßig auftretenden Küstennebel und Tau in der Atacama-Wüste absorbieren und so als Wasserquelle nutzen.

Spezialoberflächen ermöglichen die Nebelernte im Wüstengras (Namib-Wüste) und in den Tillandsien (Atacama-Wüste): Spezialoberflächen ermöglichen die Nebelernte im Wüstengras (Namib-Wüste) und in den Tillandsien (Atacama-Wüste)
Spezialoberflächen ermöglichen die Nebelernte im Wüstengras (Namib-Wüste) und in den Tillandsien (Atacama-Wüste)
Besondere Anpassungen zur Nebel- und Tauaufnahme in trockenen Gebieten lassen sich auch in der Familie der Kakteen finden. Kakteen sind ursprünglich auf dem amerikanischen Kontinent entstanden und dort als typische Wüstenvegetation bekannt. Allerdings kommt es nicht in allen Wüsten zu Nebelbildung, sondern meist nur, wenn diese in Küstennähe liegen. Wie in anderen Pflanzenfamilien, gibt es auch bei den Kakteen einige Arten, die speziell an das regelmäßige Auftreten von Nebel und Tau angepasst sind und nur in diesen Gebieten natürlich vorkommen. Aufgrund der Zerstörung solcher Lebensräume und illegalen Wildsammlungen sind aktuell leider viele Arten vom Aussterben bedroht und stehen unter besonderem Schutz. Um zu verstehen, wie Kakteen in den trockensten Regionen der Erde überleben und ihr Fortbestehen auch in Zukunft zu sichern, ist ihre Erforschung unbedingt notwendig.

Kaktusstacheln zeigen eine enorme Vielfalt an Oberflächenstrukturen, die sich auf die Wechselwirkung mit Wasser auswirken: Kaktusstacheln zeigen eine enorme Vielfalt an Oberflächenstrukturen, die sich auf die Wechselwirkung mit Wasser auswirken.
Kaktusstacheln zeigen eine enorme Vielfalt an Oberflächenstrukturen, die sich auf die Wechselwirkung mit Wasser auswirken.
Kakteen sind bekannt dafür, dass sie Wasser im Pflanzenkörper einlagern. Zum Schutz bilden sie oft Stacheln aus. Kaktusstacheln eignen sich aber auch sehr gut als Nebelfänger: Durch ihre Exposition sowie die spitz zulaufende Form und spezielle Oberflächenstrukturen können sich größere Tropfen formen und in Richtung Pflanzenkörper geleitet werden. In Opuntien wird der Oberflächentransport durch kleine Rillen und Widerhaken beschleunigt. Das Prinzip funktioniert jedoch auch ohne die Rillen und die aufsitzenden Widerhaken; allein durch die konische Form der Stacheln werden Tropfen sogar entgegen der Schwerkraft geleitet. Es gibt bereits erste technische Anwendungen, die diese Erkenntnisse nutzen, wie beispielsweise ein Hautpflaster, das menschlichen Schweiß gezielt über Stachel-inspirierte Kanäle zu einem zentralen Sensor leitet und dort bestimmte chemische Bestandteile analysiert. Aufgrund der Form und der hydrophilen Oberflächenbeschichtung der Leitkanäle ist für den Transport keine externe Energiequelle notwendig.
Die Welt der Pflanzen beherbergt viele potentielle Lösungskonzepte für technische Anwendungen und nachhaltige Kreislaufsysteme – wir müssen nur ganz genau hinschauen und bereit sein, uns inspirieren zu lassen.

Literaturtipps:Dr. Jessica Huss ist am Institut für Biophysik der Universität für Bodenkultur Wien als Forscherin tätig und untersucht im Rahmen eines FWF-geförderten Projekts die Nebel- und Tauaufnahme von Kaktusstacheln.