Do 27. April 2023
Sie leben in heißen Wüstenregionen, in immerfeuchten Tropen, in der Tiefsee und auf Gletschern, aber auch vor unserer Haustür – die Rede ist von den Bärtierchen. Keine andere Tiergruppe hat es geschafft, sich im Laufe der Evolution so perfekt an schnell wechselndeUmweltbedingungen anzupassen. Sie können eintrocknen und gefrieren und altern dabei nicht einmal. Vor 250 Jahren wurden sie entdeckt.
Antoni van Leeuwenhoek war ein niederländischer Naturforscher und Mikroskopie-Pionier des 17. Jahrhunderts. Van Leeuwenhoek ist bekannt dafür, dass er als erster Mensch lebende Mikroorganismen durch ein Mikroskop beobachtet und beschrieben hat. Er baute etwa 500 eigene Mikroskope, die aus Metallplatten und einzelnen Linsen bestanden, von denen aber nur noch wenige in Museen erhalten sind. Van Leeuwenhoek war auch ein erfolgreicher Geschäftsmann und stellte unter anderem feine Stoffe her, deren Qualität er mit seinen Vergrößerungsgeräten überprüfen konnte.  Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen und Ehrungen für seine Arbeit auf dem Gebiet der Mikroskopie und der Naturforschung.

Am 9. Februar 1702 schrieb er an Hendrik van Bleyswijk, dass er ein bemerkenswertes Phänomen entdeckte. Er nahm trockenen und scheinbar leblosen Staub aus der Dachrinne seines Hauses, füllte diesen in ein Glasröhrchen und schüttet sauberes Wasser darauf. Als er sich das Glasröhrchen nach einer guten Stunde wieder ansah, wuselten darin viele kleine „Tierchen“, die sich mit einem Körperende an das Glas hefteten, einige krochen daran entlang oder schwammen. Dieses Experiment machte er nicht nur einmal, sondern gleich mehrmals und selbst mit Staub, der viele Monate lang trocken gehalten wurde, funktionierte es. Van Leeuwenhoek war erstaunt: „Ich gestehe, dass ich nie gedacht hätte, dass es irgendein Lebewesen in einem so trockenen Untergrund wie diesem geben könnte“.

Die dem Brief von van Leeuwenhoek beigefügten Zeichnungen zeigen, dass es sich bei seinem Tierchen um das handelt, was später als Rädertierchen bekannt werden sollte. Mit großer Wahrscheinlichkeit handelte es sich um die Art Philodina roseola, die der deutsche Naturforscher und Pionier der Mikroskopie Christian Gottfried Ehrenberg beschrieben hat. Auch wenn der Gattungsname Philodina „Liebhaber von Tümpeln“ bedeutet, kommen viele Arten auch in Moosen, Flechten und anderen Mikrolebensräumen vor, die nur zeitweilig feucht sind und oft austrocknen. Mit dem Verschwinden von Wasser gehen die Tiere in den Zustand der Anhydrobiose (aus dem Griechischen für „Leben ohne Wasser“) über und trocknen aus. Sobald der nächste Regen kommt, quellen die zusammengeschrumpften Tiere auf und werden wieder aktiv, so wie wenn nichts gewesen wäre.

71 Jahre nach van Leeuwenhoeks Entdeckung war es der evangelische Pfarrer Johann August Ephraim Goeze in Quedlinburg, der eine weitere bis dahin unbekannte Entdeckung machte. Goeze war zwar kein Naturwissenschaftler, übersetzte aber eine Vielzahl von wissenschaftlichen und philosophischen Werken von der französischen in die deutsche Sprache. Durch sein äußerst sorgfältiges Arbeiten und seine Beobachtungsgabe wurde er deshalb auch im letzten Drittel seines Lebens von der Fachwelt als ein erfolgreicher Zoologe anerkannt.

In seiner freien Zeit spazierte Goeze gern durch die Natur und kescherte kleine Wasserinsekten in einem Tümpel, der ganz in der Nähe seiner St.-Blasii-Kirche gewesen sein muss. Unter seinem Mikroskop fand er dann zwischen den kleinen Wasserlinsen ein Tier, das er noch nie zuvor gesehen hatte. Seine Beobachtungen beschrieb er 1773 ausführlich in dem Anhang seiner deutschen Übersetzung von „Traite d'Insectologie“, einem Buch des Schweizer Naturforschers und Philosophen Charles Bonnet. Daher feiern wir dieses Jahr 250 Jahre Entdeckung der Bärtierchen.
    
Goeze schrieb: „Mit Recht kann dieses Geschöpf unter die seltensten und seltsamsten gerechnet werden. Selten nenne ich es, weil ich es im Winter nur einigemal, im Sommer gar nicht gefunden habe. Selten muß es wohl seyn, weil ich es in allen Verzeichnissen der grösten Naturforscher, deren Auge weit mehr, als das meinige gesehen, vergeblich gesucht habe. Selbst ein Müller (Anmerkung: hier ist der dänische Naturforscher und Zoologe Otto Friedrich Müller gemeint), dieser scharfsichtige Beobachter, scheint es nicht entdeckt zu haben (...) Seltsam ist dieses Thierchen, weil der ganze Bau seines Körpers ausserordentlich und seltsam ist und weil es in seiner äusserlichen Gestalt, dem ersten Anblicke nach, die gröste Aehnlichkeit mit einem Bäre im Kleinen hat. Dies hat mich auch bewogen, ihm den Namen des kleinen Wasserbärs zu geben (...)".

Erste Zeichnung von einem Bärtierchen von Johann August Ephraim Goeze (1773)
Erste Zeichnung von einem Bärtierchen von Johann August Ephraim Goeze (1773)
Es war aber dann Lazzaro Spallanzani, der italienische Universalgelehrte, katholische Priester und Naturforscher, der sich 1776, also drei Jahre nach Goezes Buchveröffentlichung, intensiver mit Bärtierchen beschäftige. Sein besonderes Interesse galt dabei der Austrocknungstoleranz, die die Bärtierchen genauso haben wie die Rädertierchen. Er wurde dann auch Namengeber für die Tiergruppe – „il Tardigrado“, abgeleitet vom Lateinischen (tardus = langsam; gradi = schreiten).

Wahrscheinlich muss man davon auszugehen, dass die Bärtierchen wohl mehrfach unabhängig voneinander entdeckt wurden, da es in der damaligen Zeit nur wenig wissenschaftlichen Informationsaustausch gab. O. F. Müller erwähnte später Spallanzani im Zusammenhang mit seinen Beobachtungen, Goeze wird in keiner Quelle zitiert, was daran liegen mag, dass er zur Zeit seiner Beobachtungen noch ein verhältnismäßig unbedeutender Amateurwissenschaftler war.

Die erste Bärtierchenart, die einen Namen erhalten hat, ist Macrobiotus hufelandi. Der deutsche Physiologe und Anatom Carl August Sigismund Schultze hatte ab 1812 eine Professur an der Universität Freiburg im Breisgau und sammelte in der Umgebung Moose. Darin fand er die Bärtierchen, die er dann allerdings erst nach seinem Wechsel 1831 an die Universität Greifswald beschrieb. Auch ihm war damals schon bekannt, dass die Tiere in der Lage sind, vollständig einzutrocknen, in einem todesähnlichen Zustand sind, um dann wieder aktiv zu werden. Im 19. Jahrhundert beschäftigten sich auch noch andere Naturforscher mit Bärtierchen und das Phänomen der Trockentoleranz wurde nach verschiedenen Disputen von der Wissenschaft anerkannt. Seit dieser Zeit geht es weniger um die Frage, ob Bärtierchen das Austrocknen unbeschadet überleben können, sondern wie und wie lange.

Kolorierte rasterelektronenmikroskopische Aufnahme der Bärtierchenart Echniscus granulatus (Doyère, 1840)
Kolorierte rasterelektronenmikroskopische Aufnahme der Bärtierchenart Echniscus granulatus (Doyère, 1840)
Die meisten Studien über die Fähigkeit, lange Zeiträume getrocknet zu überdauern, wurden in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts durchgeführt. Einer der ersten, der ausführliche Experimente machte, war der deutsche Zoologe Hermann Baumann. Ihm gelang es, eine Bärtierchenart nach einer siebenjährigen Trockenzeit wieder erfolgreich zu rehydrieren. Die längste wissenschaftlich gesicherte Überlebenszeit von einer Bärtierchenart liegt bei 20 Jahren, aber theoretisch könnten sie noch viel länger schlummern. Während wir auch beim Schlafen älter werden, ist es bei Bärtierchen anders. Sie ignorieren völlig die Zeit, die sie getrocknet oder auch gefroren verbringen – das biologische Altern wird einfach angehalten. Diese Strategie wird nach dem Grimmschen Märchen als „Dornröschen“-Modell bezeichnet. Es wäre also durchaus denkbar, dass Bärtierchen nach hundert Jahren aktiv werden können. Wenn da nicht noch das sogenannte chemische Altern wäre. Denn negative Umwelteinflüsse wie beispielweise UV-Strahlung können die Tiere auch im getrockneten Zustand schädigen. Während Bärtierchen im aktiven Zustand auch Meister der molekularen Zellreparatur sind, häufen sich die Schäden in getrockneten Tieren an, bis sie letztendlich zum Tod des Tieres führen.

Die moderne Forschung legte in den letzten 20 Jahren den Schwerpunkt auf die Entschlüsselung der molekularen und zellulären Mechanismen, die der Trocken- und Gefriertoleranz der Bärtierchen zugrunde liegen. Doch trotz umfangreicher Daten sind weiterhin die „Wassersubstitutionshypothese“ von Webb aus dem Jahr 1965 und die „Verglasungshypothese“ von John Crowe aus dem Jahr 1971 aktuell. Hierbei handelt es sich auch nicht um konkurrierende, sondern um sich ergänzende Erklärungsversuche. Die „Wassersubstitutionshypothese“ erklärt die stabilisierende Wirkung von (Zucker)molekülen, die während der Austrocknung die Wassermoleküle ersetzen und als stabilisierender Platzhalter fungieren. Die „Verglasungshypothese“ bezieht sich auf die Ausbildung einer amorphen Substanz, ein biologisches Glas, das aus einer Zuckerart, Proteinen oder Gemischen aus diesen sein kann.

Rasterelektronenmikroskopische Aufnahme eines anhydrobiotischen Bärtierchens (im Tönnchenstadium) der Bärterichenart Parmacrobiotus palaui
Rasterelektronenmikroskopische Aufnahme eines anhydrobiotischen Bärtierchens (im Tönnchenstadium) der Bärterichenart Parmacrobiotus palaui
Wenn wir verstehen, wie Tiere wie Rädertierchen oder Bärtierchen das Eintrocknen- und Einfrieren überleben, dann ist es denkbar, dass wir dies in vielen anderen Bereichen anwenden könnten. Im medizinischen Bereich ist gerade der Bedarf an der Stabilisierung von Zellen im getrockneten oder gefrorenen Zustand für die Zell,- Organ- und Gewebekonservierung für den Transport und medizinische Anwendungen sowie bei der Langzeitlagerung von autologem (körpereigenem) und heterologem (körperfremdem) Gewebe- und Organmaterial groß. So können zum Beispiel menschliche Blutplättchen wegen der Gefahr einer bakteriellen Kontamination nicht länger als fünf Tage gelagert werden, und manchmal kommt es zu einem Mangel an frischen Blutplättchen. Mit neuen Techniken könnte es möglich werden, Blutplättchen, Zelllinien, Gewebe oder Organe bei Raumtemperatur längere Zeiträume zu lagern statt in energieintensiven Flüssigstickstoff-Gefrierschränken.

Rasterelektronenmikroskopische Aufnahmen von Eiern von Bärtierchen
Rasterelektronenmikroskopische Aufnahmen von Eiern von Bärtierchen
Die Lebensmittelindustrie ist an einer verbesserten Konservierung und Lagerung von Zwischenprodukten und Endprodukten ebenfalls sehr interessiert. Hier geht es vor allem um die sogenannten Starterkulturen. Die Starterkultur wird normalerweise zu Beginn des Herstellungsprozesses dem Lebensmittel hinzugefügt. Die Mikroorganismen in der Starterkultur beginnen dann, das Lebensmittel zu fermentieren oder zu säuern, was zu Geschmack, Textur und Haltbarkeit beiträgt. Durch die Verwendung einer Starterkultur kann auch sichergestellt werden, dass das Lebensmittel gleichmäßig fermentiert wird und eine hohe Qualität aufweist. Starterkulturen können aus verschiedenen Bakterienarten bestehen, je nachdem, welche Art von Lebensmittel hergestellt wird. Zum Beispiel können Milchsäurebakterien als Starterkultur für die Herstellung von Joghurt, Käse, Sauerkraut und anderen fermentierten Lebensmitteln verwendet werden. Hefe kann als Starterkultur für die Herstellung von Brot, Bier und Wein verwendet werden.

Auch im pharmazeutischen Bereich gibt es vielfältige Anwendungsmöglichkeiten wie beispielsweise zum Trocknen von Impfstoffen. Es könnten Trockenimpfstoffe hergestellt werden, die erst aktiviert werden, wenn sie in den Körper gelangen und eine langsame Freisetzung des Impfstoffs ermöglicht, wodurch Auffrischungsimpfungen überflüssig würden. Dies würde möglicherweise auch generell die Notwendigkeit der Kühlung von Impfstoffen überflüssig machen, sodass Trockenimpfstoffe in den Entwicklungsländern, in denen Kühlmöglichkeiten oftmals weniger zugänglich sind, in größerem Umfang zur Verfügung stehen würden.

Trotz intensiver Forschungsarbeiten stehen wir noch sehr weit am Anfang, um die außergewöhnlichen Fähigkeiten der Bärtierchen zu verstehen und um die gewonnenen Erkenntnisse in eine praktische Anwendung zu überführen. Aber wer weiß, vielleicht werden einmal Astronautinnen und Astronauten auf dem Weg zum Saturn sein, der im besten Falle etwa 1,2 Milliarden Kilometer von der Erde entfernt ist. Eine solche Reise dauert je nach Geschwindigkeit des Raumschiffs etwa sechs Jahre. Vielleicht lassen sich die Raumfahrenden bis dahin in den „Dornröschenschlaf“ der Bärtierchen versetzen und dann kommen sie gut erholt und ohne zu altern am Ziel an. Im Weltraum waren die Bärtierchen übrigens schon einmal im Rahmen der FOTON-M3- Mission der Europäischen Weltraumorganisation (ESA). Selbst einen „Weltraumspaziergang“ haben einige, als erste mehrzellige Organismen, ohne „Schutzanzug“ überlebt. Die Sterberate war zwar hoch nach ihrer Rückkehr zur Erde, dennoch überlebten einige Bärtierchen nicht nur, sondern konnten sich auch erfolgreich vermehren, obwohl sie der kosmischen Strahlung, dem Vakuum und der UV-Strahlung ausgesetzt worden waren.

Literaturtipps:
  • Water Bears: The Biology of Tardigrades (2018). Schill, R.O. (Hrgs.), Springer. https://doi.org/10.1007/978-3-319-95702-9_7
  • Hengherr S., Brümmer F., Schill RO (2008) Anhydrobiosis in tardigrades and its effects on longevity traits. Journal of Zoology 275:216–220
  • Hengherr S., Worland MR, Reuner A., Brümmer F, Schill RO (2009) High-temperature tolerance in anhydrobiotic tardigrades is limited by glass transition. Physiological and Biochemical Zoology 82:749–755
  • Hengherr S., Worland MR, Reuner A., Brümmer F., Schill RO (2009) Freeze tolerance, supercooling points and ice formation: comparative studies on the subzero temperature survival of limnoterrestrial tardigrades. Journal of Experimental Biology 212:802–807
  • Jönsson KI, Rabbow E., Schill RO, Harms-Ringdahl M., Rettberg P. (2008) Tardigrades survive exposure to space in low Earth orbit. Current Biology 18:R729–R731
Ralph Schill hat eine außerplanmäßige Professor für Zoologie an der Universität Stuttgart. Sein Hauptinteresse gilt der biologischen Vielfalt und der Reaktion wirbelloser Tiere auf Umweltstressoren und deren Einfluss auf die Organismen und ganze Ökosysteme. Seit 2007 ist er u.a. Mitglied im Vorstand der Gesellschaft für Biologische Systematik (GfBS) und hat mehrere neue Bärtierchenarten in Palau, Kenia, USA, Italien, Frankreich und Deutschland entdeckt. 2018 publizierte er zusammen mit 21 Kollegen das wissenschaftliche Standardwerk „Water bears: The Biology of Tardigrades“ und aktuell organisiert er das Jubiläumsjahr www.tardigrade-online.org.