Was macht ein Museum eigentlich, um eine geschichtsträchtige Ausnahmesituation wie die Corona-Krise zu dokumentieren? Das Technische Museum Wien mit Österreichischer Mediathek gibt Einblicke in die derzeitige Sammlungspraxis.
Mittlerweile ist uns allen bewusst: Die derzeitige Ausnahmesituation rund um die Corona-Krise wird in die Geschichtsbücher eingehen. Aber wer schreibt die Geschichte? Und was werden zukünftige Generationen über diesen historischen Moment erfahren? Museen spielen dabei eine tragende Rolle, denn neben dem öffentlichkeitswirksamen Ausstellungsbetrieb sind sie auch Gedächtnisspeicher der Gesellschaft.
 
Martina Griesser-Stermscheg (MG), Leiterin der Abteilung Sammlungen, und Johannes Kapeller (JK), stellvertretender Leiter der Österreichischen Mediathek, geben Einblicke in die derzeitige Sammlungspraxis des Technischen Museums Wien mit Österreichischer Mediathek.

Was ist aktuell das Besondere an den Sammlungstätigkeiten der Museen im Kontext der Corona-Krise? 
 
MG: Dass gerade so viele Museen – vom kleinen, ehrenamtlich geführten Museum bis hin zum großen Bundesmuseum – zum selben Zeitpunkt und zum selben Thema der Gegenwart sammeln, ist außergewöhnlich und bemerkenswert, aber gleichzeitig auch selbstverständlich, denn dieses historische Ereignis darf in keiner Sammlung fehlen.
 
JK: Richtig, für Museen und Archive ist es eine Selbstverständlichkeit, nichtsdestominder bemerken wir mit Erstaunen, dass viele Menschen etwas überrascht auf diese Sammlungstätigkeiten reagieren. Mit Museen verbindet man den publikumswirksamen Ausstellungsbetrieb, wo man Objekte aus „längst vergangenen Zeiten“ besichtigen kann. Dass wir natürlich in der Gegenwart für das Publikum der Zukunft sammeln und archivieren, ist zwar auf den zweiten Blick logisch, allerdings weniger in den Köpfen verankert. Durch die Corona-Krise wird dafür eine gewisse Sensibilität geschaffen.
 
Und was wird nun für das Publikum der Zukunft bewahrt?
 
JK: Die Österreichische Mediathek des Technischen Museums Wien ist das nationale audiovisuelle Archiv für Österreichs Kultur- und Zeitgeschichte. Das heißt, eine unserer Aufgaben ist es ohnehin, die mediale Berichterstattung in Fernsehen und Radio, die ja dieser Tage sehr fokussiert auf Corona ist, mitzuschneiden und zu archivieren. Zusätzlich sammeln wir auch noch aktiv private Videoaufnahmen mit Corona-Bezug, wie sie z. B. auch auf Social-Media-Kanälen geteilt werden. Dabei möchten wir einerseits festhalten, was die Gesellschaft bewegt, indem wir virale und „trending“ Videos aufbewahren, anderseits auch den derzeitigen Alltag in Bereichen wie Technik, Medizin, Politik, Musik oder Literatur dokumentieren.
 
MG: Die Corona-Krise und ihre Auswirkungen berührt beinahe alle Sammlungsschwerpunkte des Technischen Museums, wie zum Beispiel Alltag und Gesellschaft, Medizintechnik, Verkehr und Mobilität oder Produktionstechnik. So sammeln wir etwa den Infrarot-Fieberthermometer, der auf Flughäfen zum Einsatz kam, oder die Einwegmasken, die am ersten Tag der Maskenpflicht in Supermärkten ausgegeben wurden, ebenso wie 3D-Drucke von Face Shields, die gerade entstehen oder Tracking-Systeme, die aufzeichnen, mit welchen Menschen man in nahem Kontakt war. Wir sammeln aber auch ganz kuriose Sachen wie zum Beispiel einen Hometrainer mit Tisch, mit dem man im Home-Office auch beim Arbeiten radeln kann. Diese und weitere Objekte bewahren wir aber nicht nur für zukünftige Generationen, sondern werden sie auch in naher Zukunft in einer Corona-Rückschau kontextualisieren und ausstellen.
 
JK: Beim Sammeln geht es aber in erster Hinsicht mal rein ums Aufbewahren, eine Verwendung in naher oder ferner Zukunft steht auf einem anderen Blatt. Zum Beispiel war ich kürzlich mit den Wiener Linien unterwegs und habe für unser Archiv die aktuellen U-Bahn-Durchsagen aufgenommen.
Sicherheitsdurchsagen mit Schlagworten wie „flatten the curve“ waren uns vor der Corona-Krise natürlich fremd und werden nach der Krise auch wieder verschwinden. Man sieht wie vergänglich viele Dinge sind und wie schnell sie wieder von der Bildfläche verschwinden. Dementsprechend hat es auch einen Wert, sie aufzuheben und zu archivieren.
 
MG: Genau. Was hat längerfristig Wert und Bedeutung für zukünftige Generationen? Das ist eine zentrale Frage beim Sammeln. Aber gerade in so einer Ausnahmesituation ist es auch wichtig, dass diese Frage aus unterschiedlichen Perspektiven beantwortet wird. Deshalb hat das Technische Museum Wien für das 10-Megabyte-Museum auch einen Corona-Schwerpunkt gesetzt und die Bevölkerung aufgerufen, digitale Erinnerungsobjekte zum Thema Corona direkt einzureichen.
 
Was kann man sich unter dem 10-Megabyte-Museum vorstellen?
 
MG: In den letzten Jahren sind unsere digitalen Geräte immer präsenter geworden, wir sind in unserem Alltag von immensen Datenmengen umgeben. Das ist durch die Ausgangsbeschränkungen jetzt zwar verstärkt der Fall, allerdings keineswegs ein neuer Trend. Dementsprechend wollten wir uns mit dem 10-Megabyte-Museum mithilfe der Bevölkerung erstmal auch dem digitalen Erbe widmen und die erste, digitale Sammlung aufbauen. Interessierte Personen sind eingeladen, sich die Frage zu stellen, welche digitale Flaschenpost sie in die Zukunft schicken möchten, wenn sie sich auf 10 MB beschränken müssten. Der Fokus auf genuin digitale Objekte bleibt auch beim Corona-Schwerpunkt, inhaltlich rufen wir auch dazu auf, den veränderten Umgang mit Technik in dieser Ausnahmesituation zu reflektieren.
 
Und was wird da beispielsweise eingereicht?

MG: Fotografien, Videos, Musik, teilweise auch sehr persönliche Dinge. Man merkt auch, die Leute haben mehr Zeit, Kreativität auszuleben.
 
JK: Das ist auch etwas, das wir bei unseren Sammlungstätigkeiten beobachten. Dadurch, dass sich das öffentliche Leben nun vermehrt im Netz abspielt, bemerken wir auch ein Revival des Home Videos, wo Menschen auch in privaten Videos den eigenen Haushalt und den eigenen Alltag reflektieren und dokumentieren.
 
Sammeln mit Publikumsbeteiligung, ist das ein Konzept, dass sich nur in derartigen Ausnahmesituationen bewährt?
 
MG: Absolut nicht. Wir erhalten laufend Schenkungsangebote von Privatpersonen und Firmen, die uns großzügigerweise Objekte wie technische Geräte, Bilder oder Bücher vermachen wollen. Oft starten wir auch ganz spezifische Aufrufe, in denen wir ganz gezielt nach Objekten suchen, die in unseren Sammlungen noch fehlen. Derzeit erhalten wir sogar ungewöhnlich viele Schenkungsangebote, man merkt, dass viele Leute ihre Wohnung entrümpeln und dabei ungeahnte Schätze finden. Aufgrund der intensiven Sammeltätigkeit um Corona ist allerdings die „reguläre“ Sammlungstätigkeit stark eingeschränkt, nicht zuletzt, weil die Objekte derzeit nicht gesichtet und übergeben werden können.
 
JK: In der Österreichischen Mediathek verhält es sich ähnlich, auch in unseren Beständen befinden sich zahlreiche Schenkungen. Dabei archivieren wir allerdings nicht nur das physische Objekt, sondern digitalisieren auch die Inhalte. So können Ton- und Videoaufnahmen auf mittlerweile veralteten Datenträgern wie Schellack-Platten oder VHS-Kassetten, langfristig bewahrt und dem interessierten Publikum auch leichter zugänglich gemacht werden.
 
Was verändert sich nun aufgrund der derzeitigen Situation für Gedächtnisinstitutionen wie Museen und Archive?
 
JK: Tatsächlich verändert sich an unserer Funktion und Arbeitsweise als Wissensspeicher der Gesellschaft nur wenig, aber wir begrüßen es, dass diesem wichtigen Aspekt nun vermehrt Beachtung geschenkt wird. Wir sind nicht nur dem Publikum der Gegenwart verpflichtet, sondern auch dem Publikum der Zukunft.
 
MG: Definitiv. Sammeln und Forschen sind zentrale Aspekte unserer Aufgaben und unseres Selbstverständnisses als Museum, die natürlich weniger öffentlichkeitswirksam passieren als der Ausstellungsbetrieb und die Vermittlungsprogramme. Wer sich aber inmitten dieser Krise schon einmal gefragt hat, wie man sich in 20, 50 oder 100 Jahren an diese Ausnahmesituation erinnern wird, wird schnell feststellen, dass Museen und Archive dabei eine zentrale Rolle und Verantwortung übernehmen. Mit Großaktionen wie dem Sammel-Aufruf zum 10-Megabyte-Museum wollen wir aber gleichzeitig das Bewusstsein schärfen, dass dies auch ein partizipativer und demokratischer Prozess ist. In diesem Sinne freuen wir uns über zahlreiche, vielfältige und vielleicht auch überraschende Einreichungen, die mit uns gemeinsam diese Geschichte erzählen!

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